Dienstag, 17. Juli 2007

Kapitel I.1 Tallinn: Vanalinn – Die Altstadt

Die Altstadt Tallinns hat viele lohnenswerte Zugänge. Der Autor empfiehlt dem Besucher, der sich zum ersten Mal aufmacht dieses Weltkulturerbe zu erforschen und kennen zu lernen, den Zugang durch das Virutor, welches den Zuschlag nicht nur wegen seiner verkehrsnahen Lage zu den meisten Hotels erhält, die sich um die östliche Seite der Altstadt und in Nähe des Passagierhafens befinden. Trotz der Massen an Touristen, die gerade im Sommer nach Estland, in die Heimat des Autors, der zwar in Folge der historischen und unseligen Vorgänge des Zweiten Weltkrieges nicht die Chance hatte in dieser zu leben, die jedoch dennoch seit seinem ersten Besuch ein wichtiger Teil von ihm wurde, strömen, ist dieser Zugang aufgrund seiner Breite und der anschließenden Virustrasse, die direkt ins Herz der Altstadt, auf den Rathausplatz führt, der wohl lohnenswerteste von allen, ein Fest für die Augen des an Architektur und auch an Shopping interessierten Betrachters. Allein schon die zwanzig Meter lange Reihe an Blumenständen, die sich vor dem Virutor aufreihen, die jedem Mann rund um die Uhr die Möglichkeit des Erwerbs eines Blumenstrasses für die Angebetete geben, ist eine Einmaligkeit, die man so nicht aus deutschen oder anderen europäischen Innenstädten kennt.

Gleich nach dem Eintritt in die Altstadt durch die beiden mit wildem Wein umrankten Türme des Tores, die den breiten Kopfsteingepflasterten Weg links und rechts flankieren, fällt das erste Gebäude, dem wir für einen Moment unsere Aufmerksamkeit schenken sollen, ins Auge: Das Kaufhaus De la Gardi. Es mag dem Leser dieser Zeilen ein Stirnrunzeln hervorrufen, wenn wir die Besprechung der Altstadt mit einem Kaufhaus beginnen. Doch ist dieses Kaufhaus aus zwei Gründen interessant und einen Moment der Beachtung wert. Zum einen aus architektonischen Gründen. Im Gegensatz zum Rest der Altstadt, die – so wie wir sie heute sehen können – zum Großteil aus dem fünfzehnten Jahrhundert erhalten geblieben und samt und sonders zum Weltkulturerbe erklärt wurden. Das Auge selbst des flüchtigen Betrachters wird sofort feststellen, das die Gestaltung des Kaufhauses De la Gardi sich mit seiner futuristischen und skandinavischen Bauweise deutlich von den es umgebenden Steinbauten der Hansestadt abhebt. Die Mischung aus Holz, Glas, Metall und Stein, die auf den ersten Blick fremd in der historischen Nachbarschaft anmerkt, ruft – so die Erfahrung des Autors – zwei gegensätzliche Reaktionen hervor. Zum einen diejenige, die den Kontrast zur Umgebung als zumindest interessant, wenn nicht sogar gelungen empfindet. Zum anderen jene, die von Verschandlung des zumindest ersten Eindrucks spricht. Der Autor bekennt sich als indifferent. Es kann die bloße Gewohnheit sein, die ihn dieses Haus als gegeben und sogar irgendwie interessant empfinden lässt. Andererseits ist bei näherer Betrachtung das Bemühen des Bauherren, trotz der modernen Architektur Teile der ursprünglichen Form zu behalten und zu verarbeiten unübersehbar und sollte dementsprechend gewürdigt werden. Der zweite Grund, warum dieses Kaufhaus einen näheren Blick wert ist, ist der alte Grundstein, dessen stattliche Größe man voll erhalten im Untergeschoss des Hauses betrachten und bewundern kann. Leider durch die langen Jahre teils unleserlich geworden erkennt man darauf noch gut das abgebildete Kreuz mit dem Wappen der Familien De la Gardi und einen Teil der alten Inschrift. Dem bereits zu beginn des Besuches der estnischen Hauptstadt Durstigen sei verraten, dass sich im vierten Stock des Hauses „Roberts Cafe“ befindet, in welchem man bei ansprechendem Ambiente einen relativ teuren aber guten Kaffee käuflich erwerben kann.

Auch wenn es dem Verfasser dieser Aufzeichnungen drängt, beinahe jedes Haus der Virustrasse auf dem Weg vom Stadttor bis hin zum alten Markt detailliert zu beschreiben, die architektonischen Kniffe zu erklären – soweit sie dem architektonisch eigentlich nicht geschulten Auge des Verfassers bekannt sind -, die Farben und die Geschichten jener Kaufmanns- und Gewerbehäuser, Stadtresidenzen und städtischer Einrichtungen kund zu tun und so jedes einzelnen dem geistigen Auge des geneigten Lesers vorzuführen, es soll und kann in diesem Rahmen nicht geschehen. Es wäre zumal unmöglich jene Wucht an verschiedenen Eindrücken in Worte zu fassen, ohne sich in eine endlose Wiederholung von Adjektiven, Komparativen und Superlativen zu ergehen und diese Flut auf den Leser niederprasseln zu lassen. Da reiht sich gleich gegenüber jenem angesprochenen Kaufhaus ein eher schlicht gebautes Haus in rosa neben einem prunkvollen Gebäude mit Stuck und Verziehrungen, welches im unteren Drittel magentablau, in den oberen Regionen hellgrün bemalt wurde, welches wiederum neben einer Stadtvilla mit schmiedeeisernen Balkonen, in ansprechendem rotbraun gehalten, aufgereiht steht.

Es ist eben dieser Kontrast, der in anderen, noch zu beschreibenden Teilen der alten Hansemetropole noch deutlicher zu Tage tritt, wenn neben voll renovierten Prachtbauten unverputzte, bröckelnde und ihrer Renovierung harrender ehemalige architektonische Schmuckstücke ihr Dasein fristen. Da schmiegt sich Prunk an einfache Eleganz, farbenfrohe, Papageien gleiche Villen an eintönige Warenhäuser, renoviertes an unrenoviertes, kurz: ein Kontrast, der Tallinn seinen ganz persönlichen Charme gibt und der dafür sorgt, dass auch der wiederholte Besuch der Altstadt Überraschungen mit sich bringt.

Der Besucher Tallinns geht nun also die eben vollkommen unzulänglich beschriebene Virustrasse entlang, schlendert vorbei an Boutiquen und Restaurants, Kneipen und Souvenirständen, immer auf den sich schlank und elegant in die Höhe erhebenden Turm des Alten Rathauses zu, auf dessen Spitze der Torwächter der Hansestadt „Vana Thomas“, der „Alte Thomas“, über die Stadt zu wachen scheint. Nach einer leichten Linkskurve schließlich betritt der Leser den „Vana Turk“, dem alten Markt, ein kleiner Platz am Fuße des Rathausplatzes, auf dem zu verweilen uns das imposante Gebäude drängt, in dessen inneren das Restaurant „Olde Hansa“ etabliert hat.

Der werte Leser gestatte mir an dieser Stelle eine kleine Abschweifung vom Thema, oder besser gesagt vom Ort. Bezüglich der Figur des „Vana Thomas“ herrscht in Tallinn eine Legende, deren Erzählung zu versäumen ich nicht möchte. Vor den Toren der Stadt liegt der See Ülemiste. Dieser See ist allein schon deswegen besonders, da er seit jahrhunderten die Trinkwasserversorgung der Stadt darstellt, zumindest in neuerer Zeit zum größten Teil. Die Tatsache, dass der Flughafen Estlands genau an diesen See grenzt und die landenden und startenden Flugzeuge über selbigen fliegen sei an dieser Stelle der Vollständigheitshalber angemerkt, jedoch nicht weiter gewürdigt – zumindest nicht in diesem Abschnitt des Buches. In diesem See lebt nun der Legende nach ein Geist, der Alte Mann des See Ülemiste. Und einmal im Jahr kommt eben dieser Alte Mann aus dem See heraus uns klopft an die Stadttore Tallinns. Der Alte Thomas, der Torwächter, eilt dann jedes Mal herbei um dem Alten Mann von Ülemiste die Tür zu öffnen. Und jedes Mal folgt der selbe Dialog: „Ist die Stadt fertig gebaut ?“ fragt der Alte Mann, und Thomas antwortet: „Nein, die Stadt ist nicht fertig gebaut, und es wird noch lange dauern, bis sie vollendend ist.“ Damit schließt der Torwächter die Pforte wieder und der Geist kehrt zurück in seinen See. Und dies wiederholt sich jahrein jahraus zum höheren Wohle der Stadt, denn sollte Thomas dem Geist die Vollendung der Stadt bejahen, würde der Legende nach der See über seine Ufer treten und die alte Hansestadt fortspülen. Das dies nicht geschehen ist verdanken die Esten und die Besucher der Stadt eben dem Alten Thomas, weswegen seine Figur auch auf dem Turm des Rathauses befestigt wurde.

Doch kehren wir zurück zum zweiten Gebäude, dessen Aufmerksamkeit uns befohlen wird durch seine Einzigartigkeit. Das Gebäude, in dem das bereits kurz erwähne Restaurant „Olde Hansa“ sich eingenistet hat, ist das ehemalige Zeug- und Lagerhaus der Hansestadt. In diesem hohen und imposanten Gebäude, an dessen Mauern nur einige wenige schmale Fenster im Inneren für Beleuchtung, ist nicht nur aufgrund seiner interessanten baulichen Beschaffenheit von außen einen Besuch wert. Im Inneren findet sich der neugierige Beobachter einer fast mittelalterlichen Einrichtung aus grob geschlagenen dunklen Holztischen und Bänken wieder, kleinen Holzsesseln mit Armlehnen und einem bunt gemischten Haufen an in alter Tracht angezogenen Kellnerinnen. Das Restaurant, welches zu den besten der Stadt, auf jeden Fall jedoch zu dem empfehlenswertesten zählen muss, offeriert dem Gast eine bis ins Detail geplante und liebevoll umgesetzte Zeitreise in die frühe Neuzeit, die als goldene bezeichnete Hansezeit, in der Reval und Dorpat zu blühenden Metropolen heranwuchsen und man den Reichtum der Stadt an vielen Ecken sehen konnte. Es sei dem Besucher geraten den Besuch in einer größeren Gruppe zu organisieren, so ihm dies möglich ist – um dann eine der wählbaren Menüvorschläge zu wählen. Ist schon die Speisekarte, die es neben Estnisch und Russisch auch in Englisch und Deutsch gibt, ein Kunstwerk und gefällt dem werten Kostgänger, so wird ihn die Show der Bedienungen faszinieren. Da werden alte Festbräuche zelebriert, spezielle Schnäpse kredenzt und ein unvergleichliches Honigbier gebraut – wenn auch nicht direkt am Tisch. Es treibt den Verfasser der Zeilen länger in diesem gastlichen Hause zu bleiben, die Wandmalereien zu beschreiben, die zusammen mit der Kerzenbeleuchtung an Tischen und Kronleuchtern die Atmosphäre in einen einzigartigen Besuch verwandeln, die breiten Holztreppen, die die vier Stockwerke miteinander verbinden oder auch die kleine Insel aus Holz, auf der im Sommer Besucher in freien Essen können.

Doch wollen wir unseren Blick dem zuwerfen, wohin wir schon seit Beginn unseres Ganges vom Virutor hinstrebten und in dessen unmittelbarer Nähe, zu dessem Fuße wir uns nun befinden: Dem Rathausplatz. Wir verlassen also den alten Markt und gehen die wenigen Meter hinauf, eine kleine Rechtskurve unmittelbar an der Mauer des Rathauses, und wir erblicken den großen alten Platz, das Herz der alten Hansestadt Reval.

Keine Kommentare: