Dienstag, 17. Juli 2007

Kapitel I.1 Tallinn: Vanalinn – Die Altstadt

Die Altstadt Tallinns hat viele lohnenswerte Zugänge. Der Autor empfiehlt dem Besucher, der sich zum ersten Mal aufmacht dieses Weltkulturerbe zu erforschen und kennen zu lernen, den Zugang durch das Virutor, welches den Zuschlag nicht nur wegen seiner verkehrsnahen Lage zu den meisten Hotels erhält, die sich um die östliche Seite der Altstadt und in Nähe des Passagierhafens befinden. Trotz der Massen an Touristen, die gerade im Sommer nach Estland, in die Heimat des Autors, der zwar in Folge der historischen und unseligen Vorgänge des Zweiten Weltkrieges nicht die Chance hatte in dieser zu leben, die jedoch dennoch seit seinem ersten Besuch ein wichtiger Teil von ihm wurde, strömen, ist dieser Zugang aufgrund seiner Breite und der anschließenden Virustrasse, die direkt ins Herz der Altstadt, auf den Rathausplatz führt, der wohl lohnenswerteste von allen, ein Fest für die Augen des an Architektur und auch an Shopping interessierten Betrachters. Allein schon die zwanzig Meter lange Reihe an Blumenständen, die sich vor dem Virutor aufreihen, die jedem Mann rund um die Uhr die Möglichkeit des Erwerbs eines Blumenstrasses für die Angebetete geben, ist eine Einmaligkeit, die man so nicht aus deutschen oder anderen europäischen Innenstädten kennt.

Gleich nach dem Eintritt in die Altstadt durch die beiden mit wildem Wein umrankten Türme des Tores, die den breiten Kopfsteingepflasterten Weg links und rechts flankieren, fällt das erste Gebäude, dem wir für einen Moment unsere Aufmerksamkeit schenken sollen, ins Auge: Das Kaufhaus De la Gardi. Es mag dem Leser dieser Zeilen ein Stirnrunzeln hervorrufen, wenn wir die Besprechung der Altstadt mit einem Kaufhaus beginnen. Doch ist dieses Kaufhaus aus zwei Gründen interessant und einen Moment der Beachtung wert. Zum einen aus architektonischen Gründen. Im Gegensatz zum Rest der Altstadt, die – so wie wir sie heute sehen können – zum Großteil aus dem fünfzehnten Jahrhundert erhalten geblieben und samt und sonders zum Weltkulturerbe erklärt wurden. Das Auge selbst des flüchtigen Betrachters wird sofort feststellen, das die Gestaltung des Kaufhauses De la Gardi sich mit seiner futuristischen und skandinavischen Bauweise deutlich von den es umgebenden Steinbauten der Hansestadt abhebt. Die Mischung aus Holz, Glas, Metall und Stein, die auf den ersten Blick fremd in der historischen Nachbarschaft anmerkt, ruft – so die Erfahrung des Autors – zwei gegensätzliche Reaktionen hervor. Zum einen diejenige, die den Kontrast zur Umgebung als zumindest interessant, wenn nicht sogar gelungen empfindet. Zum anderen jene, die von Verschandlung des zumindest ersten Eindrucks spricht. Der Autor bekennt sich als indifferent. Es kann die bloße Gewohnheit sein, die ihn dieses Haus als gegeben und sogar irgendwie interessant empfinden lässt. Andererseits ist bei näherer Betrachtung das Bemühen des Bauherren, trotz der modernen Architektur Teile der ursprünglichen Form zu behalten und zu verarbeiten unübersehbar und sollte dementsprechend gewürdigt werden. Der zweite Grund, warum dieses Kaufhaus einen näheren Blick wert ist, ist der alte Grundstein, dessen stattliche Größe man voll erhalten im Untergeschoss des Hauses betrachten und bewundern kann. Leider durch die langen Jahre teils unleserlich geworden erkennt man darauf noch gut das abgebildete Kreuz mit dem Wappen der Familien De la Gardi und einen Teil der alten Inschrift. Dem bereits zu beginn des Besuches der estnischen Hauptstadt Durstigen sei verraten, dass sich im vierten Stock des Hauses „Roberts Cafe“ befindet, in welchem man bei ansprechendem Ambiente einen relativ teuren aber guten Kaffee käuflich erwerben kann.

Auch wenn es dem Verfasser dieser Aufzeichnungen drängt, beinahe jedes Haus der Virustrasse auf dem Weg vom Stadttor bis hin zum alten Markt detailliert zu beschreiben, die architektonischen Kniffe zu erklären – soweit sie dem architektonisch eigentlich nicht geschulten Auge des Verfassers bekannt sind -, die Farben und die Geschichten jener Kaufmanns- und Gewerbehäuser, Stadtresidenzen und städtischer Einrichtungen kund zu tun und so jedes einzelnen dem geistigen Auge des geneigten Lesers vorzuführen, es soll und kann in diesem Rahmen nicht geschehen. Es wäre zumal unmöglich jene Wucht an verschiedenen Eindrücken in Worte zu fassen, ohne sich in eine endlose Wiederholung von Adjektiven, Komparativen und Superlativen zu ergehen und diese Flut auf den Leser niederprasseln zu lassen. Da reiht sich gleich gegenüber jenem angesprochenen Kaufhaus ein eher schlicht gebautes Haus in rosa neben einem prunkvollen Gebäude mit Stuck und Verziehrungen, welches im unteren Drittel magentablau, in den oberen Regionen hellgrün bemalt wurde, welches wiederum neben einer Stadtvilla mit schmiedeeisernen Balkonen, in ansprechendem rotbraun gehalten, aufgereiht steht.

Es ist eben dieser Kontrast, der in anderen, noch zu beschreibenden Teilen der alten Hansemetropole noch deutlicher zu Tage tritt, wenn neben voll renovierten Prachtbauten unverputzte, bröckelnde und ihrer Renovierung harrender ehemalige architektonische Schmuckstücke ihr Dasein fristen. Da schmiegt sich Prunk an einfache Eleganz, farbenfrohe, Papageien gleiche Villen an eintönige Warenhäuser, renoviertes an unrenoviertes, kurz: ein Kontrast, der Tallinn seinen ganz persönlichen Charme gibt und der dafür sorgt, dass auch der wiederholte Besuch der Altstadt Überraschungen mit sich bringt.

Der Besucher Tallinns geht nun also die eben vollkommen unzulänglich beschriebene Virustrasse entlang, schlendert vorbei an Boutiquen und Restaurants, Kneipen und Souvenirständen, immer auf den sich schlank und elegant in die Höhe erhebenden Turm des Alten Rathauses zu, auf dessen Spitze der Torwächter der Hansestadt „Vana Thomas“, der „Alte Thomas“, über die Stadt zu wachen scheint. Nach einer leichten Linkskurve schließlich betritt der Leser den „Vana Turk“, dem alten Markt, ein kleiner Platz am Fuße des Rathausplatzes, auf dem zu verweilen uns das imposante Gebäude drängt, in dessen inneren das Restaurant „Olde Hansa“ etabliert hat.

Der werte Leser gestatte mir an dieser Stelle eine kleine Abschweifung vom Thema, oder besser gesagt vom Ort. Bezüglich der Figur des „Vana Thomas“ herrscht in Tallinn eine Legende, deren Erzählung zu versäumen ich nicht möchte. Vor den Toren der Stadt liegt der See Ülemiste. Dieser See ist allein schon deswegen besonders, da er seit jahrhunderten die Trinkwasserversorgung der Stadt darstellt, zumindest in neuerer Zeit zum größten Teil. Die Tatsache, dass der Flughafen Estlands genau an diesen See grenzt und die landenden und startenden Flugzeuge über selbigen fliegen sei an dieser Stelle der Vollständigheitshalber angemerkt, jedoch nicht weiter gewürdigt – zumindest nicht in diesem Abschnitt des Buches. In diesem See lebt nun der Legende nach ein Geist, der Alte Mann des See Ülemiste. Und einmal im Jahr kommt eben dieser Alte Mann aus dem See heraus uns klopft an die Stadttore Tallinns. Der Alte Thomas, der Torwächter, eilt dann jedes Mal herbei um dem Alten Mann von Ülemiste die Tür zu öffnen. Und jedes Mal folgt der selbe Dialog: „Ist die Stadt fertig gebaut ?“ fragt der Alte Mann, und Thomas antwortet: „Nein, die Stadt ist nicht fertig gebaut, und es wird noch lange dauern, bis sie vollendend ist.“ Damit schließt der Torwächter die Pforte wieder und der Geist kehrt zurück in seinen See. Und dies wiederholt sich jahrein jahraus zum höheren Wohle der Stadt, denn sollte Thomas dem Geist die Vollendung der Stadt bejahen, würde der Legende nach der See über seine Ufer treten und die alte Hansestadt fortspülen. Das dies nicht geschehen ist verdanken die Esten und die Besucher der Stadt eben dem Alten Thomas, weswegen seine Figur auch auf dem Turm des Rathauses befestigt wurde.

Doch kehren wir zurück zum zweiten Gebäude, dessen Aufmerksamkeit uns befohlen wird durch seine Einzigartigkeit. Das Gebäude, in dem das bereits kurz erwähne Restaurant „Olde Hansa“ sich eingenistet hat, ist das ehemalige Zeug- und Lagerhaus der Hansestadt. In diesem hohen und imposanten Gebäude, an dessen Mauern nur einige wenige schmale Fenster im Inneren für Beleuchtung, ist nicht nur aufgrund seiner interessanten baulichen Beschaffenheit von außen einen Besuch wert. Im Inneren findet sich der neugierige Beobachter einer fast mittelalterlichen Einrichtung aus grob geschlagenen dunklen Holztischen und Bänken wieder, kleinen Holzsesseln mit Armlehnen und einem bunt gemischten Haufen an in alter Tracht angezogenen Kellnerinnen. Das Restaurant, welches zu den besten der Stadt, auf jeden Fall jedoch zu dem empfehlenswertesten zählen muss, offeriert dem Gast eine bis ins Detail geplante und liebevoll umgesetzte Zeitreise in die frühe Neuzeit, die als goldene bezeichnete Hansezeit, in der Reval und Dorpat zu blühenden Metropolen heranwuchsen und man den Reichtum der Stadt an vielen Ecken sehen konnte. Es sei dem Besucher geraten den Besuch in einer größeren Gruppe zu organisieren, so ihm dies möglich ist – um dann eine der wählbaren Menüvorschläge zu wählen. Ist schon die Speisekarte, die es neben Estnisch und Russisch auch in Englisch und Deutsch gibt, ein Kunstwerk und gefällt dem werten Kostgänger, so wird ihn die Show der Bedienungen faszinieren. Da werden alte Festbräuche zelebriert, spezielle Schnäpse kredenzt und ein unvergleichliches Honigbier gebraut – wenn auch nicht direkt am Tisch. Es treibt den Verfasser der Zeilen länger in diesem gastlichen Hause zu bleiben, die Wandmalereien zu beschreiben, die zusammen mit der Kerzenbeleuchtung an Tischen und Kronleuchtern die Atmosphäre in einen einzigartigen Besuch verwandeln, die breiten Holztreppen, die die vier Stockwerke miteinander verbinden oder auch die kleine Insel aus Holz, auf der im Sommer Besucher in freien Essen können.

Doch wollen wir unseren Blick dem zuwerfen, wohin wir schon seit Beginn unseres Ganges vom Virutor hinstrebten und in dessen unmittelbarer Nähe, zu dessem Fuße wir uns nun befinden: Dem Rathausplatz. Wir verlassen also den alten Markt und gehen die wenigen Meter hinauf, eine kleine Rechtskurve unmittelbar an der Mauer des Rathauses, und wir erblicken den großen alten Platz, das Herz der alten Hansestadt Reval.

Kapitel I - Tallinn: Allgemeines und Verschiedenes

Es ist wohl immer schwer, ein erstes Kapitel eines Buches zu beginnen. Normalerweise weiss man zwar womit, aber nicht wo man anfangen soll und verstrickt sich denn in immer längere Einleitungssätze und Einführungen mit länger werdenden Satzkonstruktionen, reiht Nebensatz an Nebensatz in der wagen Hoffnung, durch Zufall oder Eingebung irgendwann den Bogen zu jenem Punkt spannen zu können, zu dem man von Anfang an eigentlich gelangen wollte.

In diesem Fall aber steht der Autor vor der Schwierigkeit, womit er beginnen soll. Soll man erst über die Geschichte reden, also einen chronologischen Anfangspunkt wählen ? Oder soll man mit der Aktualität beginnen, der politischen Situation der Estnischen Republik zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, also dem Beitritt zu Nato und EU, der Manifestierung der Westbindung den jeder Estnische Politiker seit 1991 konsequent und zielstrebig verfolgt hat ? Nach reiflicher Überlegung jedoch kommt der Verfasser zu der Entscheidung mit dem nahe liegenden zu beginnen und da weiter zu schreiben, wo er ganz am Anfang begonnen hat: Mit einer Beschreibung der Haupt- Regierungs- und Hansestadt Tallinn.

Wann Tallinn gegründet wurde entzieht sich der Erkenntnis des Verfassers und ist wohl auch nicht letztendlich geklärt. Sicher ist, dass an eben jener Stelle, auf dem heute der Domberg steht, eine Festung der hier siedelnden Finnuhrgischen Bewohner stand – von Pistohlkors nennt sie in seiner umfangreichen Abhandlung Lyndanise. Im Jahre 1219 schließlich wurde die diese – mittlerweile leer stehende Festung vom dänischen König Valdemar II. zerstört und eine neue Feste gebaut. Der Grund für diesen Feldzug, wenn man in diesen Zeiten überhaupt einen triftigen Grund für eine Krieg brauchte, waren aller Wahrscheinlichkeit nach die Verhandlungen zwischen Bischof Adalbert von Bremen, dem Gründer von Riga 1201, und dem dänischen König über einen Gemeinsamen Kampf gegen die heidnischen Esten. Diese Eroberung ist auch deswegen erwähnenswert, da der Legende nach während der Schlacht bei Fellin gegen revoltierende Esten dem dänischen König eine Flagge vom Himmel zu seinen Füßen flog – und der König unter dieser Flagge die Schlacht gewinnen konnte. Diese Flagge, rot mit weißem Längskreuz, bis heute das Banner Dänemarks geblieben, ist uns heute als Danebrog bekannt. Eine Geschichte, die ebenso in das Reich der Legende gehört wie jene, die von Kaiser Konstantin von Byzanz erzählt, dem am Abend vor der entscheidenden Schlacht an der Brücke von Milvian 312 im Traum das Kreuz erschein mit dem Satz „In diesem Zeichen siege“. Und Konstantin wählte das Kreuz als Symbol seiner Streitmacht und Gewann. Doch nicht desto trotz, eine kleine Auswirkung dieser Belagerung und Erstürmung reicht bei heute nach. Und dabei geht es nicht um die Tatsache, dass noch heute der Danebrog die Nationalflagge Dänemarks und diese auch im Stadtwappen Tallinns abgebildet ist. Es soll vielmehr an dieser Stelle den der estnischen Sprache nicht mächtigen Lesern (und davon dürfte es viele geben) die Etymologie des Namens Tallinn erläutert werden. Der Name der Stadt setzt sich zusammen aus den estnischen Worten Taani und Linn, übersetzt hieße dies „Dänisch“ und „Stadt“, sprich „Dänische Stadt“.

Die weitere Geschichte der Region des heutigen Estlands ist nicht einfach zu beschreiben, kämpften doch Esten und Deutsche, Dänen und Russen gegeneinander, gab es Interventionen seitens des Papstes und Ereignisse außerhalb der Region, die jedoch entscheidenden Einfluss auf unsere hier beschriebene Geschichte nehmen. Fakt jedoch ist, dass nach der Niederlage des Dänischen Königs in Bornhöved in Schleswig Holstein im Jahre 1227 gegen norddeutsche Fürsten das Königreich Dänemark die von Deutschen Truppen belagerte Burg Reval auf- und übergeben musste. Bischof Adalbert jedoch konnte sich nur kurze Zeit an der Eroberung freuen: Zwei Jahre später verstarb er und wurde in der Marienkirche zu Riga beigesetzt. Der Schwertbrüderorden sorgte dann ab dem Jahre 1230 für die Ansiedlung deutscher Kaufleute und damit für die Gründung der Deutschen Stadt Reval.

Jedoch soll der interessanten Geschichte jener Region in den folgenden Jahren und Jahrhunderten in einem anderen Kapitel mehr Zeit gewidmet sein. Wenden wir uns wieder zurück zum Thema dieses Kapitels, der Stadt Tallinn.

Die Deutschen nannten die Stadt, die Hauptthema dieses Kapitels sein soll, bis ins Jahre 1918 Reval, und noch heute hört man in Deutschbaltischen Kreisen diesen Namen. Eine überzeugende etymologische Erklärung für diesen Namen kann der Autor nicht geben, allerdings mal wieder eine Legende, die immerhin mit einem Stadtpark in Tallinn untermauert werden kann: Ein Reh, dass vor dem Wall der Festung des Dombergs gesehen wurde soll Namenspatron der Hansestadt geworden sein, das Reh vor dem Wall hat, so erzählt man sich, die Frau eines Stadtherrens so entzückt, dass der Name schließlich übernommen wurde. Diese Erzählung ist in der Altstadt Tallinns in Form eines Parks dargestellt, ein Pflichtpunkt jedes Stadtrundgangs durch die Altstadt, zu dem später noch kurz Bericht erstattet werden soll.

Kommen wir nun jedoch zum eigentlichen, zur Altstadt der estnischen Hauptstadt, die wir im Folgenden gesonderte Aufmerksamkeit schenken wollen.

Vorwort oder Einleitung

Das erste Merkmal der alten Hansestadt Tallinn, das aus dem Dunst der August Abenddämmerung und der Entfernung der Fähre zur Stadt erkennbar wird, ist der neu renovierte Turm der mächtigen Olei-Kirche. Warum dies gerade dem Autor ins Auge sticht und den Blick, der die aufsteigende Küste seit einiger Zeit suchend ertastet, als erster leuchtturmartige Punkt ins Auge sticht, kann sicher auf mehrere Arten erklärt werden. Man mag sich an dieser Stelle damit begnügen, dass zum einen die Olei-Kirche, oder um den estnischen Namen zu benutzen Oleviste Kiirk, mit ihrem 156 Meter hohen Turm den höchsten im gesamten Baltikum hat und demnach und dadurch auch aus größerer Entfernung sichtbar ist; zum anderen wohl aber auch, weil der Verfasser und Inhaber eben jener suchenden Augen eine persönliche Beziehung zu diesem Gotteshaus aufgebaut hat und darum wohl mehr oder weniger bewusst eben jenen lang gezogenen spitzen Turm mit seiner goldenen Kugel am oberen Ende, und seiner über die Jahrhunderte mit Grünspan überzogenen Messinghaut gerade gesucht hat.

Auf dem von Siljaline etwas hochtrabend so genannten Panoramadeck zu stehen und die langsam – für den ungeduldig erwartenden Autor fast zu langsam – deutlich werdenden Konturen der alten Hansemetropole zu betrachten ist ein solch erhabener Moment , dass man trotz der hervorragenden Flugverbindungen zwischen Deutschland und Estland jedem Besucher dieser Stadt und dem nördlichsten der Baltischen Staaten nur wärmstens ans Herz legen kann, diese etwas längere Art der Anreise zu wählen.

Tallinn, wie die geschätzten Leser dieser Aufzeichnungen wissen dürften, ist die Haupt- und Regierungsstadt der Freien Republik Estland, oder um die wohl eher unbekannten estnischen Bezeichnungen nicht zu vergessen, der Eesti Vabariik, am finnischen Meerbusen gelegen und gerade mal 82 Kilometer von der weitaus bekannteren finnischen Hauptstadt Helsinki entfernt. Warum Estland immer noch – trotz der Aufnahme in die NATO und die Europäischen Union, trotz des Gewinns des Grand Prix d` Eurovision im Jahr 2001 und der im folgenden Jahr sehr gelungenen Austragung dieser in Europa bekannten und vielbeachteten Fernsehinstitution immer noch in vielen Kreisen unbekannt ist, ist wohl nur dadurch zu erklären, dass Estland zwischen 1940 und 1991 Teil der Sowjetunion wurde, seit eben der Regierungs- und man muss sie so nennen auch Schreckenszeit des Georgiers Josef Wissarionowitsch Dshugashwili, besser bekannt als Josef Stalin, und erst in Folge des gescheiterten Moskauer Putschversuches am 19. August 1991 seine seit 1988 unternommenen Anstrengungen in Richtung einer Lösung vom einflussreichen russischen Nachbarn endgültig manifestieren konnte. Es sei auch hier bereits angemerkt, dass Tallinn anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau mit Ausrichtung der Segelwettbewerbe sich in die Reihe der Olympischen Städte einreihen kann, was allerdings im unseren Breiten aufgrund des unseligen Boykotts der westlichen Staaten dieser XVI. Olympiade wenig Beachtung fand.

Man mag dem Verfasser verzeihen, dass er diese Gründe nicht so recht anerkennen kann und will, ist doch Estland mit seiner großen Affinität zur Deutschen Kultur, wohl auch entstanden durch die 700 Jahre andauernde Vorherrschaft – zumindest was Kultur und Wirtschaft angeht – der Deutschbalten in dieser Region, weit hinter der ihm gebührenden Aufmerksamkeit bliebt und wohl auch weiterhin bleiben wird, wenn auch dieser Teilsatz mit großem Bedauern zu Papier gebracht wurde. Doch nicht nur um dies vielleicht ein wenig zu ändern hat sich der Verfasser entschlossen, dieses Buch zu schreiben, an einem sonnigen Augusttag am Pepsisee, der sich – soviel Geographie sei in diesem Vorwort erlaubt – längs der östlichen Grenze Estlands erstreckt, und dessen über vierzig Kilometer reichende Breite zugleich die Grenze zwischen der Baltischen Republik Estland und der Russischen Föderation darstellt, besser gesagt, jene Grenze in sich trägt. Es geht auch und gerade darum, die vielen Eindrücke, die der Autor auf mehreren Reisen und Aufenthalten in Estland gesammelt hat zu verarbeiten und somit nieder zu schreiben was einem im Süden Deutschlands aufgewachsenen Halbbalten bewegt, wenn er in das Land einreist, welches seiner Familie über hunderte von Jahren lang liebe Heimat war.

Bevor wir nun aber in die eigentlichen Kapitel dieses Buches eindringen, in denen zum einen Städte wie Tallinn oder Tartu, aber auch Pärnu oder Narva näher betrachtet werden, der Leser den Versuch eines Einblickes in Politik und Wirtschaft, Sprache und Geschichte, Natur und Kultur zur Lektüre serviert bekommen wird, muss und will der Autor sich kurz ein wenig mit ein paar Fakten bezüglich Estland befassen, was zum Verständnis der folgenden Kapitel sicher seinen Beitrag leisten wird, oder anders gesagt, ohne dessen Kenntnis sich manches was folgt sich dem Verständnis des Leser eher zu widersetzen versuchen wird.

Estland liegt, wie bereits erwähnt, an der Ostsee, gegenüber von Finnland, und umrahmt von Russland auf der östlichen und südlichen, und von Lettland auf der westlichen Seite. Mit seiner Ausdehnung von 300 Kilometern von Nord nach Süd und etwa 400 Kilometern von Ost nach West – wenn man die beiden großen Inseln Saaremaa (zu Deutsch Ösel) und Hiiuma nicht in die Kalkulation einberechnet, gehört es sicher zu den kleinen Staaten in Europa – allerdings, und darauf sei an dieser Stelle auch verwiesen, immer noch größer als Dänemark. Inseln ist nebenbei bemerkt ein gutes Stichwort. Estland besitzt über 1000 eben dieser, wenn auch nur vier von Ihnen auf normalen Karten als solche erkennbar sind, was man mit der Größe eben jener einerseits, anderseits – ein Gebot der Logik – der Vielzahl und der geringen Ausdehnung der anderen erklärbar ist. Zu den großen Inseln, genannt seien neben Saaremaa und Hiiuma auch Vormis und Muhu, soll in einem späteren Kapitel näheres berichtet werden. Allein diese Tatsache möchte der Autor den geneigten Lesern gleich zu Beginn nicht vorenthalten, nämlich dass Lettland, der direkte Nachbar gen Westen nicht eine einzige Insel sein eigen nennen kann, eine Tatsache die um so mehr interessanter ist, da mitten im Golf von Riga ein Eiland liegt, welches von Lettland zwar beansprucht, von Estland jedoch nicht aufgegeben wurde.

Wenn auch Estland der Fläche nach also nicht zu den kleinsten der Europäischen Länder gehört – selbst wenn man etwa Andorra aus der Rechnung nimmt – so macht doch die Einwohnerzahl jenen Eindruck zu Nichte. Mit 1,36 Millionen Einwohnern muss man Estland einfach zu den Zwergen der EU rechnen, eine Tatsache, die zwar nicht zu bestreiten ist, jedoch den Esten trotzdem nicht gerecht wird, wie der Autor im Rahmen dieses Buches zu zeigen hofft. Diese 1,36 Millionen Menschen leben zumeist in Städten, die meisten davon, etwa 500 000, allein in Tallinn, der Hauptstadt. Im Gegensatz allerdings zu Lettland, wo mehr als die Hälfte aller Einwohner in und um Riga lebt, kann Estland mit den Städen Tartu (Deutsch Dorpat, 120 000 Einwohner) im Süden des Landes, Pärnu (Deutsch Pernau, 60 000 Einwohner) im Westen und Narva (ca. 70 000 Menschen) im Osten ein gewisses Gleichgewicht aufweisen.

Auch wenn in der heutigen Demographie die Deutsche Volksgruppe keine nennenswerte Erwähnung mehr findet, sind die Deutschen aus der Geschichte dieses Landes nicht weg zu denken. Ohne zu weit in die Geschichte eindringen zu wollen, dies soll in einem gesonderten Kapitel geschehen, will der Verfasser gleich zu Beginn darauf kurz eingehen. Wie auf den bisherigen Seiten bereits geschehen, findet sich hinter den estnischen Bezeichnungen von Orten und Namen oft in Klammern die deutsche Bezeichnung. Dies geschah und geschieht nicht aus überzeichnetem Nationalgefühl des Autors, allein schon daraus zu beweisen, dass eben jener sich im Besitze beider Nationalitäten weiss, sondern aufgrund der historischen Gegebenheit, dass bis ins Jahr 1920 die Deutschbalten die kulturelle und wirtschaftliche Hegemonie dieser Region inne hatten, gleich welche Nation de facto das Baltikum okkupiert hatte, seien es Dänen, Polen, Schweden oder Russen. Erst als im Jahr 1920 die Esten wie die Letten die Chance des Chaos des beendeten ersten Weltkrieges nutzen und zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen eigenen Staat gründeten, erlosch die Vorherrschaft der Deutschen. Die deutschen Bezeichnungen jedoch wurden nicht vergessen, und so trifft der Autor auch gerade junge Esten, die durchaus mit der Bezeichnung Dorpat die Universitätsstadt Tartu verbinden können und auch selbst noch diese Bezeichnung benutzen. Als Abrundung dieser Thematik zumindest für dieses Kapitel sei berichtet, dass, als 1920 das Estnische zur einzigen Staatssprache erhoben wurde in der damals wichtigsten Zeitung Postimees man zum besseren Verständnis neben den relativ neuen und deswegen oft unbekannten Estnischen Worten man in Klammern die frühere Deutsche Bezeichnung abdruckte. Und auch heute noch geniest die Deutsche Sprache einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft, immerhin wählt jeder dritte Schüler in Estland nach Englisch Deutsch als zweite Fremdsprache und das Niveau der Germanistik Studenten an der Universität Tartu ist – wie sich der Autor selbst überzeugen konnte – ein unbestreitbar hohes.

Doch nun soll es genug sein mit Fakten und Zahlen, auch wenn man auch in den folgenden Kapiteln nicht zur Gänze auf diese verzichten können wird. Jedoch will der Autor versuchen jene auf ein Minimum der Notwendigkeit zu reduzieren.