Dienstag, 17. Juli 2007

Vorwort oder Einleitung

Das erste Merkmal der alten Hansestadt Tallinn, das aus dem Dunst der August Abenddämmerung und der Entfernung der Fähre zur Stadt erkennbar wird, ist der neu renovierte Turm der mächtigen Olei-Kirche. Warum dies gerade dem Autor ins Auge sticht und den Blick, der die aufsteigende Küste seit einiger Zeit suchend ertastet, als erster leuchtturmartige Punkt ins Auge sticht, kann sicher auf mehrere Arten erklärt werden. Man mag sich an dieser Stelle damit begnügen, dass zum einen die Olei-Kirche, oder um den estnischen Namen zu benutzen Oleviste Kiirk, mit ihrem 156 Meter hohen Turm den höchsten im gesamten Baltikum hat und demnach und dadurch auch aus größerer Entfernung sichtbar ist; zum anderen wohl aber auch, weil der Verfasser und Inhaber eben jener suchenden Augen eine persönliche Beziehung zu diesem Gotteshaus aufgebaut hat und darum wohl mehr oder weniger bewusst eben jenen lang gezogenen spitzen Turm mit seiner goldenen Kugel am oberen Ende, und seiner über die Jahrhunderte mit Grünspan überzogenen Messinghaut gerade gesucht hat.

Auf dem von Siljaline etwas hochtrabend so genannten Panoramadeck zu stehen und die langsam – für den ungeduldig erwartenden Autor fast zu langsam – deutlich werdenden Konturen der alten Hansemetropole zu betrachten ist ein solch erhabener Moment , dass man trotz der hervorragenden Flugverbindungen zwischen Deutschland und Estland jedem Besucher dieser Stadt und dem nördlichsten der Baltischen Staaten nur wärmstens ans Herz legen kann, diese etwas längere Art der Anreise zu wählen.

Tallinn, wie die geschätzten Leser dieser Aufzeichnungen wissen dürften, ist die Haupt- und Regierungsstadt der Freien Republik Estland, oder um die wohl eher unbekannten estnischen Bezeichnungen nicht zu vergessen, der Eesti Vabariik, am finnischen Meerbusen gelegen und gerade mal 82 Kilometer von der weitaus bekannteren finnischen Hauptstadt Helsinki entfernt. Warum Estland immer noch – trotz der Aufnahme in die NATO und die Europäischen Union, trotz des Gewinns des Grand Prix d` Eurovision im Jahr 2001 und der im folgenden Jahr sehr gelungenen Austragung dieser in Europa bekannten und vielbeachteten Fernsehinstitution immer noch in vielen Kreisen unbekannt ist, ist wohl nur dadurch zu erklären, dass Estland zwischen 1940 und 1991 Teil der Sowjetunion wurde, seit eben der Regierungs- und man muss sie so nennen auch Schreckenszeit des Georgiers Josef Wissarionowitsch Dshugashwili, besser bekannt als Josef Stalin, und erst in Folge des gescheiterten Moskauer Putschversuches am 19. August 1991 seine seit 1988 unternommenen Anstrengungen in Richtung einer Lösung vom einflussreichen russischen Nachbarn endgültig manifestieren konnte. Es sei auch hier bereits angemerkt, dass Tallinn anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau mit Ausrichtung der Segelwettbewerbe sich in die Reihe der Olympischen Städte einreihen kann, was allerdings im unseren Breiten aufgrund des unseligen Boykotts der westlichen Staaten dieser XVI. Olympiade wenig Beachtung fand.

Man mag dem Verfasser verzeihen, dass er diese Gründe nicht so recht anerkennen kann und will, ist doch Estland mit seiner großen Affinität zur Deutschen Kultur, wohl auch entstanden durch die 700 Jahre andauernde Vorherrschaft – zumindest was Kultur und Wirtschaft angeht – der Deutschbalten in dieser Region, weit hinter der ihm gebührenden Aufmerksamkeit bliebt und wohl auch weiterhin bleiben wird, wenn auch dieser Teilsatz mit großem Bedauern zu Papier gebracht wurde. Doch nicht nur um dies vielleicht ein wenig zu ändern hat sich der Verfasser entschlossen, dieses Buch zu schreiben, an einem sonnigen Augusttag am Pepsisee, der sich – soviel Geographie sei in diesem Vorwort erlaubt – längs der östlichen Grenze Estlands erstreckt, und dessen über vierzig Kilometer reichende Breite zugleich die Grenze zwischen der Baltischen Republik Estland und der Russischen Föderation darstellt, besser gesagt, jene Grenze in sich trägt. Es geht auch und gerade darum, die vielen Eindrücke, die der Autor auf mehreren Reisen und Aufenthalten in Estland gesammelt hat zu verarbeiten und somit nieder zu schreiben was einem im Süden Deutschlands aufgewachsenen Halbbalten bewegt, wenn er in das Land einreist, welches seiner Familie über hunderte von Jahren lang liebe Heimat war.

Bevor wir nun aber in die eigentlichen Kapitel dieses Buches eindringen, in denen zum einen Städte wie Tallinn oder Tartu, aber auch Pärnu oder Narva näher betrachtet werden, der Leser den Versuch eines Einblickes in Politik und Wirtschaft, Sprache und Geschichte, Natur und Kultur zur Lektüre serviert bekommen wird, muss und will der Autor sich kurz ein wenig mit ein paar Fakten bezüglich Estland befassen, was zum Verständnis der folgenden Kapitel sicher seinen Beitrag leisten wird, oder anders gesagt, ohne dessen Kenntnis sich manches was folgt sich dem Verständnis des Leser eher zu widersetzen versuchen wird.

Estland liegt, wie bereits erwähnt, an der Ostsee, gegenüber von Finnland, und umrahmt von Russland auf der östlichen und südlichen, und von Lettland auf der westlichen Seite. Mit seiner Ausdehnung von 300 Kilometern von Nord nach Süd und etwa 400 Kilometern von Ost nach West – wenn man die beiden großen Inseln Saaremaa (zu Deutsch Ösel) und Hiiuma nicht in die Kalkulation einberechnet, gehört es sicher zu den kleinen Staaten in Europa – allerdings, und darauf sei an dieser Stelle auch verwiesen, immer noch größer als Dänemark. Inseln ist nebenbei bemerkt ein gutes Stichwort. Estland besitzt über 1000 eben dieser, wenn auch nur vier von Ihnen auf normalen Karten als solche erkennbar sind, was man mit der Größe eben jener einerseits, anderseits – ein Gebot der Logik – der Vielzahl und der geringen Ausdehnung der anderen erklärbar ist. Zu den großen Inseln, genannt seien neben Saaremaa und Hiiuma auch Vormis und Muhu, soll in einem späteren Kapitel näheres berichtet werden. Allein diese Tatsache möchte der Autor den geneigten Lesern gleich zu Beginn nicht vorenthalten, nämlich dass Lettland, der direkte Nachbar gen Westen nicht eine einzige Insel sein eigen nennen kann, eine Tatsache die um so mehr interessanter ist, da mitten im Golf von Riga ein Eiland liegt, welches von Lettland zwar beansprucht, von Estland jedoch nicht aufgegeben wurde.

Wenn auch Estland der Fläche nach also nicht zu den kleinsten der Europäischen Länder gehört – selbst wenn man etwa Andorra aus der Rechnung nimmt – so macht doch die Einwohnerzahl jenen Eindruck zu Nichte. Mit 1,36 Millionen Einwohnern muss man Estland einfach zu den Zwergen der EU rechnen, eine Tatsache, die zwar nicht zu bestreiten ist, jedoch den Esten trotzdem nicht gerecht wird, wie der Autor im Rahmen dieses Buches zu zeigen hofft. Diese 1,36 Millionen Menschen leben zumeist in Städten, die meisten davon, etwa 500 000, allein in Tallinn, der Hauptstadt. Im Gegensatz allerdings zu Lettland, wo mehr als die Hälfte aller Einwohner in und um Riga lebt, kann Estland mit den Städen Tartu (Deutsch Dorpat, 120 000 Einwohner) im Süden des Landes, Pärnu (Deutsch Pernau, 60 000 Einwohner) im Westen und Narva (ca. 70 000 Menschen) im Osten ein gewisses Gleichgewicht aufweisen.

Auch wenn in der heutigen Demographie die Deutsche Volksgruppe keine nennenswerte Erwähnung mehr findet, sind die Deutschen aus der Geschichte dieses Landes nicht weg zu denken. Ohne zu weit in die Geschichte eindringen zu wollen, dies soll in einem gesonderten Kapitel geschehen, will der Verfasser gleich zu Beginn darauf kurz eingehen. Wie auf den bisherigen Seiten bereits geschehen, findet sich hinter den estnischen Bezeichnungen von Orten und Namen oft in Klammern die deutsche Bezeichnung. Dies geschah und geschieht nicht aus überzeichnetem Nationalgefühl des Autors, allein schon daraus zu beweisen, dass eben jener sich im Besitze beider Nationalitäten weiss, sondern aufgrund der historischen Gegebenheit, dass bis ins Jahr 1920 die Deutschbalten die kulturelle und wirtschaftliche Hegemonie dieser Region inne hatten, gleich welche Nation de facto das Baltikum okkupiert hatte, seien es Dänen, Polen, Schweden oder Russen. Erst als im Jahr 1920 die Esten wie die Letten die Chance des Chaos des beendeten ersten Weltkrieges nutzen und zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen eigenen Staat gründeten, erlosch die Vorherrschaft der Deutschen. Die deutschen Bezeichnungen jedoch wurden nicht vergessen, und so trifft der Autor auch gerade junge Esten, die durchaus mit der Bezeichnung Dorpat die Universitätsstadt Tartu verbinden können und auch selbst noch diese Bezeichnung benutzen. Als Abrundung dieser Thematik zumindest für dieses Kapitel sei berichtet, dass, als 1920 das Estnische zur einzigen Staatssprache erhoben wurde in der damals wichtigsten Zeitung Postimees man zum besseren Verständnis neben den relativ neuen und deswegen oft unbekannten Estnischen Worten man in Klammern die frühere Deutsche Bezeichnung abdruckte. Und auch heute noch geniest die Deutsche Sprache einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft, immerhin wählt jeder dritte Schüler in Estland nach Englisch Deutsch als zweite Fremdsprache und das Niveau der Germanistik Studenten an der Universität Tartu ist – wie sich der Autor selbst überzeugen konnte – ein unbestreitbar hohes.

Doch nun soll es genug sein mit Fakten und Zahlen, auch wenn man auch in den folgenden Kapiteln nicht zur Gänze auf diese verzichten können wird. Jedoch will der Autor versuchen jene auf ein Minimum der Notwendigkeit zu reduzieren.

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